Laudatio Wilfried Bartels

Text: Wilfried Bartels

Laudatio
auf die Nachfahren, die aus Anlass der Stolpersteinverlegung für ihre Angehörigen am 1. 7. 2015 von weither angereist sind – zugleich auch auf alle früheren jüdischen Besucher, die als Betroffene oder Nachfahren Obernkirchner Juden unsere Stadt beehrt haben.
(Redemanuskript)
Anrede!
Ich habe die große Freude und auch Ehre, die Anwesenheit von Nachfahren der Familien Lion/Alford und Adler zu würdigen, die von weither angereist sind, um bei der morgigen Stolpersteinverlegung dabei zu sein und natürlich zugleich die ursprüngliche Heimat ihrer Vorfahren, aus denen diese einst vertrieben wurden, kennenzulernen.
Ich heiße unsere jüdischen Gäste im Namen der Initiativgruppe „Stolpersteine in Obernkirchen“ und – ich denke – auch in Ihrer aller Namen sehr herzlich Willkommen.
Es sind Michael und John Alford mit Ihren Frauen Maricela und Lani sowie der Sohn von Michael und Maricela, David, ferner Mark Adler mit Frau Joan und Vivian Adler mit ihrem Sohn Jeremy. Michael und John sind die Söhne und David ein Enkel von Ulla Lion, verh. Alford und wohnen heute in Spanien bzw. Israel, sind aber in Neuseeland geboren, dort wohin ihre Großeltern, ihre Mutter, ihr Onkel und ihre Urgroßmutter mütterlicherseits, Betty Adler, vor dem Naziterror1939 geflohen sind.

Mark und Vivian Adler sind Sohn und Tochter und Jeremy der Enkelsohn von Erich Adler. Sie wohnen nach wie vor in den USA, wo ihre Familie Anfang 1940 Zuflucht fand. Dazu gehörte auch die Urgroßmutter mütterlicherseits, Fanny Philippsohn, die in der Schluke wohnte. Für die beiden genannten Urgroßmütter kann leider bei dieser ersten Aktion noch kein Stolperstein verlegt werden. Dies wird aber bei der nächsten nachgeholt.
Ich begrüße ebenfalls sehr herzlich Frau Johanna Schönfeld. Ihr Ehemann Manfred, der 7jährig 1938 mit seinen Eltern nach Argentinien floh, aber 1998 mit Ihnen, liebe Frau Schönfeld, nach Obernkirchen zurückkehrte, wird morgen – ebenso wie seine Eltern, Frieda und Martin Schönfeld, mit einem Stolperstein geehrt werden.
Manfred verstarb leider schon ein Jahr nach seiner Rückkehr, und zwar heute vor genau 16 Jahren, am 30. 6. 1999, mit exakt 69 1/2 Jahren.
Wir danken Ihnen, Frau Schönfeld, dass Sie trotz des Sterbetages hier heute anwesend sind. Manfreds Tod war ein schwerer Schlag für Sie, zumal Sie nicht aus Obernkirchen stammen und sich hier in der Kürze der Zeit kaum einleben konnten. Ihr Mann wurde nach 60jähriger Schließung als erster und bisher einziger auf dem jüdischen Friedhof in Obernkirchen wieder beigesetzt.
5 andere Obernkirchner Juden, die nach Schließung in den Jahren 1940 bis 1942 im sogenannten Judenhaus, wie man das frühere Synagogengebäude nun abschätzig nannte, verstorben waren, wurden zur Beisetzung auf den jüdischen Friedhof nach Rinteln verbracht, denn eine Ausnahme vom Bestattungsverbot in Obernkirchen ließen die Nazibarbaren nicht zu.
Nach alledem, was in der Zeit des Nationalsozialismus an Gräueltaten begangen wurde, insbesondere an deutschen und europäischen Juden und speziell auch an den Angehörigen unserer heutigen Gäste, ist es keine Selbstverständlichkeit, dass diese Deutschland und Obernkirchen besuchen und an der morgigen Stolpersteinverlegung teilnehmen werden. Ich halte dies auch 70 Jahre nach dem Zusammenbruch des 12 Jahre wütenden Terrorregimes für eine ganz großmütige Geste, die es zu würdigen gilt und für die wir dankbar zu sein haben.
Natürlich sind Begegnungen mit Opfern des NS-Unrechts und deren Nachfahren etwas Besonderes, etwas sehr Sensibles und erfordern auch Fingerspitzengefühl. Dennoch bin ich erstaunt, wie unverkrampft diese Gespräche stets verlaufen sind.
Hier ein Abriss der bisherigen Besuche von Betroffenen und Nachfahren in Obernkirchen:
1.
Es begann 1982. Erich Adler und seine Frau Amely, die Eltern von unseren Gästen Mark und Vivian Adler und Großeltern von Jeremy, hielten sich mehr oder weniger inkognito in Obernkirchen auf. Sie nahmen während des Besuchs nur Kontakt auf zu dem Inhaber des früheren Schuhgeschäfts Emil Ranke, Lange Straße 22, der in der Vorkriegszeit regen Kontakt mit jüdischen Familien und Geschäften unterhielt.

Erich Adler erkundigte sich bei ihm nach seinem früheren Klassenkameraden Rolf Wilkening, dem jüngsten Bruder meiner Mutter, der aber leider schon 1963 verstorben war. Erich hatte diesen Rolf Wilkening, auch deshalb noch in positiver Erinnerung, weil dieser ihm immer half, wenn andere Mitschüler ihn nach Schulschluss auflauerten und verprügeln wollten, wie er bei einem späteren Besuch 1989 in seinem lesenswerten Interview mitteilte., abgedruckt im Buch „Jüdisches Leben in der Provinz“ von Rolf-Bernd de Groot und Günter Schlusche,

Als meine Mutter nachträglich von dem Aufenthalt erfuhr, war sie traurig, Erich Adler nicht getroffen zu haben; denn sie hatte im Geschäft von Erichs Vater, Paul Adler, in den 1920er Jahren, als Erich noch ein kleiner Junge war, Textilverkäuferin gelernt und war danach als solche dort beschäftigt – bis es durch die schändlichen Boykott-Aufrufe des Naziregimes schon Anfang 1933 kaum noch etwas zu verkaufen gab.

Meine Mutter nahm jedenfalls diesen Besuch zum Anlass, die Adresse von Erich Adler, der – wie erwähnt – Anfang 1940 mit seinen Eltern in die USA geflohen war, ausfindig zu machen und schrieb ihm einen ausführlichen Brief. Daraus hatte sich dann eine wunderbare Brieffreundschaft mit Erich und seiner Frau Amely entwickelt.

2.
Diese Brieffreundschaft hat schließlich dazu geführt, dass 1989 auf Einladung der Stadt eine 7köpfige Gruppe ehemaliger Obernkirchner Juden mit ihren Ehegatten Obernkirchen besuchte. Dieser Besuch war die erste offizielle Begegnung mit noch lebenden Obernkirchner Juden, die der Deportation und dem Holocaust noch rechtzeitig durch die erzwungene Flucht entkommen waren, dies aber mit dem Verlust der Heimat und einem sicherlich schweren Neubeginn in fernen Zufluchtländern bezahlen mussten.

Bei einem Empfang der Besuchergruppe im Rathaus sprach Ernst Lion die nachdenklichen Worte: „Die Wunden sind verheilt, aber die Narben bleiben!“ Zur Besuchergruppe gehörten außer Ernst Lion seine Schwester Ulla mit ihrem Mann Werner Alford aus Neuseeland, Paul Adler mit seiner Frau Amely aus den USA und Manfred Schönfeld mit seiner Frau Johanna aus Argentinien. Frau Schönfeld ist die einzige, die von dieser Besuchergruppe noch lebt.

Es war eine sehr herzliche Begegnung mit vielen privaten Kontakten und Besuchen. Sie alle waren damals auch zu Gast in der Wohnung meiner Tochter Dagmar und ihrem Mann Dietmar Nix, in der bis zu der erzwungenen Ausreise die Familie Leopold Lion gewohnt hatte. Dieser Besuch war insbesondere für Ulla und ihren Bruder Erst Lion eine sehr emotionale Begegnung, entsprach aber deren Wunsch. Die Begegnung verlief in jeder Beziehung ausgesprochen harmonisch, mit dem Ehepaar Adler geradezu familiär.

Und dann passierte etwas Fürchterliches: Auf dem Rückflug verstarb Erich Adler während einer Zwischenlandung in London an Herzversagen. Dies hat alle, die Erich Adler bei dem Besuch in Obernkirchen kennengelernt haben, zutiefst getroffen, insbesondere aber meine Mutter.

Die Brieffreundschaft wurde zwischen Erichs Frau Amely und meiner Mutter fortgesetzt, bis die beiden schreibfreudigen alten Damen dazu nicht mehr in der Lage waren. Nach dem Tode von Amely bestand kurzeitig auch noch Briefkontakt zwischen Amelys Tochter Vivian, unserem heutigen Gast, und meiner Schwester. Und heute haben sich beide zum ersten Mal gesehen. Auch ein sehr emotionales Erlebnis.

3.
2005 besuchte die Schauspielerin Debora (genannt Deb) Filler Obernkirchen und führte im Festsaal des Stifts ihr Theaterstück auf „Punsch me in the stomach“ („Schlag mich in den Bauch“), mit dem sie Welterfolg hatte. Deb Filler ist in Neuseeland geboren.

Die besondere Beziehung zu Obernkirchen ist ihrem Großvater Philipp Adler geschuldet. Dieser wurde in Obernkirchen geboren, wuchs hier auf, zog von hier als Kriegsfreiwilliger in den 1. Weltkrieg und erlitt eine schwere Verwundung. Philipp heiratete in des 1920er Jahren nach Hildesheim und arbeite dort in dem Geschäft seiner Schwiegereltern. Er floh 1939 mit seiner Frau und Tochter Ruth von Hildesheim aus nach Neuseeland.

Auch an ihn sollte bei der nächsten Aktion mit einem Stolperstein vor dem Haus, in dem er zuletzt in Obernkirchen wohnte, erinnert werden.

4.
Deb war dann 2008 noch 2mal in Obernkirchen, einmal mit ihrer Mutter Ruth Filler, geb. Adler, und ein weiteres Mal aus Anlass der Vorstellung des schon erwähnten Buchs „Jüdisches Leben in der Provinz“.
Ruth Filler wurde in Hildesheim geboren, hat aber ebenfalls eine starke Beziehung zu Obernkirchen . Sie war 10 Jahre alt, als sie mit ihren Eltern nach Neuseeland floh, wo sie auch heute noch lebt. Ich stehe mit dieser inzwischen 86jährigen alten Dame in E-Mail-Kontakt und bin immer wieder begeistert von ihrer Schreibgewandtheit. In einer ihrer letzten E-Mails hat sie mir geschrieben, dass sie viel dafür gäbe, heute und morgen in Obernkirchen zu sein – sicherlich auch um ihre Verwandten, unsere Gäste, hier zu treffen.
5.
Der letzte Besuch von Nachfahren war erst auf den Tag genau vor 9 Monaten, am 30. 9. 2014. Es waren Stephen Lion, der Sohn von Ernst Lion, seine Frau und die erfreulicherweise auch heute wieder anwesende Schwägerin Maricela, der Frau von Michael Alford. Auch Michael, John und dessen Frau Lani wollten dabei sein. Aber unmittelbar vor Antritt der Reise verstarb Michaels und Johns Mutter, Ulla Alford, geb. Lion. Die beiden Söhne mussten verständlicherweise ihren Besuch in Obernkirchen absagen, versprachen aber, diesen später nachholen zu wollen. Sie haben Wort gehalten.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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